Was ist ein Mythos?

3.1: Was ist ein Mythos?

3.1.1: Definition

Bevor wir uns mit dem Mythos des Trabant beschäftigen, wollen wir uns zuerst bemühen, eine Erklärung für den Begriff «Mythos» zu finden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass ein Mythos immer das fassliche Ganze mentaler Vorstellungen ist, das einer wahrnehmbaren oder geistigen Sache beigemessen wird. Dieses Ganze von Anschauungen, die eine Totalität bilden, ist Träger von Sinn, Daseins- und Weltdeutungen sowie von Identität.

Weil dieses Ganze von Vorstellungen nicht unbedingt oder überhaupt nicht der konkreten Wirklichkeit entspricht, wird von «Mythos» gesprochen - und in diesem Sinne wird ein Unterschied zwischen Mythos und Realität gemacht.

Die Bildung des Mythos setzt viele positive vorgefasste Meinungen über die Herkunft der Dinge, Phänomene, Ereignisse oder Verhalten voraus, und zwar im Rahmen einer Theorie, einer Weltanschauung oder einer Sondergeschichte. Es kommt aus dem Griechischen «muthos», das «Erzählung» bedeutet, und hat einen beschreibenden, erklärenden Endzweck ... im Gegensatz zum «logos», das einer Beweisführung entspricht. Man kann, wie Paul Ricoeur, von «récit des origines» reden.

Wie bereits erwähnt, ist ein Mythos eine Einheit geistiger Bilder, die ein Ganzes bilden. Der Sinn des Mythos ist vor allem symbolisch. Wichtig ist nicht die Frage über die Verschiedenheit Mythos/Wirklichkeit, sondern die Einheit von Bedeutungen, die der Mythos in sich hat. Diese Einheit von Bedeutungen und Sinnbildern sind mit der Wirklichkeit gebunden, die Gegenstand des Mythos ist.

Die Studie der Mythen und deren Ergebnisse im Sinne von «Kenntnis» nennt sich die Mythologie. Die griechische Mythologie stellt somit die vielen Mythen aus dem antiken Griechenland und ihre von den Mythologen durchgeführte aktuelle Studie dar. Die Mythen gehören letzten Endes zu unserer Vorstellungswelt. Der Mythos eines Autos - des Trabant - gehört zur Mythologie des Automobils. Das Unterschied zwischen den griechischen Mythen und dem des Trabant ist, dass letzterer ein moderner Mythos ist. Der Trabant wurde nämlich zwischen 1958 und 1991 produziert. Das ist also nicht so weit von unserer Zeit entfernt. Darum ist hier von «modernem Mythos» die Rede.

Die Tatsache, dass der Trabant, also etwas Mobiles, ein Mythos ist, kann erstaunlich scheinen, denn, etwa im Gegensatz zu Jungs UFOs in seinem Werk «Ein moderner Mythos» (Quelle: - und ist gewissermaßen heute noch - zu gegenwärtig ...

Hingegen: der Trabant hat eine interessante Geschichte, wurde von manchen geschätzt und das ist völlig ausreichend, um ein Mythos zu sein, genauso wie die «Ente», der französische Viertakter, in bescheidenerem Maße einer ist. Und genau das ist das Interessante dabei: wer hätte vor 1989 geglaubt, dass der «treue Begleiter» heutzutage so beliebt wäre?

3.1.2: Zeit im Mythos

Der Trabant als gewöhnliches Alltagsauto hat zu DDR-Zeiten eine ganze, ja sogar zwei Generationen geprägt. 1991 wurde er nicht mehr hergestellt. Einige Jahre lang war er dann beiseite gelassen. Fast niemand interessierte sich dafür. Um 1994 wurde es ganz anders: Der Trabant fing wieder an, beliebt zu sein. In diesem Sinne kann man nicht von «horizontaler Zeit» sprechen, sondern von Kreisbewegung der Zeit. Die heutige Lage des Autos, das gewissermaßen vergöttert wird, erinnert natürlich an die 60-er oder 70-er Jahre, als sich der Trabant großer Beliebtheit erfreuen konnte. Hingegen bedeutet die «horizontale Zeit» etwas, das niemals wiederkehrt.

Wie Mircea Eliade in seinem Werk «Le sacré et le profane» erklärt (Quelle: Mircea ELIADE: Le sacré et le profane, Paris, Gallimard, 1965, S. 64.), wird die Kreisbewegung der Zeit von Riten geprägt. Nehmen wir die geistigen Menschen als Beispiel: Dessen Riten sind etwa die geistigen Feste. Die Riten des Trabi-Liebhabers sind hingegen die Trabi-Treffen. Dank dieser Treffen, die eigentlich als ewige Wiederkehr fungieren, hat das Leben der Trabi-Liebhaber einen Sinn. Dank des Mythos existieren sie.

3.1.3: Identität

Für die Trabi-Fans fungiert der Mythos auch als eine Kollektividentität; «kollektiv», weil ein Trabi-Fahrer niemals alleine ist. Er unternimmt Reisen mit Gleichgesinnten, trifft Freunde in Lokalen. Er gehört zu einer Gruppe, zu einem Club. Man kann sogar feststellen, dass es sich um eine wiedergefundene Identität handelt, denn als der Trabi im Stich gelassen wurde, d.h. kurz nach der Wende, fühlten sich diejenigen, die trotz alledem auf Trabi standen, isoliert. Einige Jahre später wurde der Wagen wieder verehrt und Gruppen von Trabi-Fans bildeten sich.

3.1.4: Heiliger Raum im Mythos

Die geschlossene Welt des Trabant oder, anders gesagt, der Trabi-Fahrer kann letzten Endes als ein Mikrokosmos betrachtet werden. Die Trabi-Welt ist eine Welt in der Welt, derer «Zentrum», wie Eliade in «Images et symboles» betont (Quelle: Mircea ELIADE: Images et symboles: essais sur le symbolisme religiuex, Paris, Gallimard, 1963, S. 47-48 und 52-53), eine heilige Stätte ist. Im Falle des Trabant ist sie Zwickau, die eine Art Mekka für jeden Trabi-Begeisterten darstellt. Zwickau ist die Haupstadt der Trabi-Welt, eine mythische Stadt, in der jedes Jahr derselbe Ritus wiederholt wird - das Internationale Trabantfahrer Treffen.

3.1.5: Der Mythos in der Werbung

Die Werbung des Trabant bedient sich einer Menge Symbole die interessant zu analysieren sind. Nehmen wir diese Werbung aus dem Jahr 1974 als Beispiel.

Beginnen wir mit den Signaltafeln. Sie sind dazu da, um zu zeigen, dass die DDR ein «weltoffenes Land» ist, das seinen Bürgern gestattet, um die Welt zu reisen - auf alle Fälle, in der Osten zu fahren ...

Das Interessanteste bleibt aber das Foto unten. Im Vordergrund befinden sich Trabis samt ihren Besitzern im Gebirge. Das Gebirge hat eine symbolische Bedeutung. Die Spitze eines Berges ist nämlich der Ausgangspunkt der Schöpfung, der Nabel der Erde (Quelle: Nadia JULIEN: Dictionnaire des symboles, Alleur (Belgien), Marabout, 1989. Beim Schreiben dieses Teils 3.1.5 haben mir die Seiten 39, 87, 90 und 230 geholfen.). Die Trabants können also als Gottes Schöpfung betrachtet werden. Das Gebirge ist aber auch das Symbol der Übersinnlichkeit, des Aufstiegs, des Schwunges des Geistes. All das ist nur Dank diesen Trabants, die im Gebirge stehen, möglich. Die Autos stehen also in Verbindung mit Gott.

Im Hintergrund kann man eine Tanne sehen. Die Tanne gehört natürlich zu den Nadelbäumen. Diese symbolisieren die Lebenskraft und den Wohlstand. Einen Trabant besitzen war gleichbedeutend damit, zur höheren Schicht der Gesellschaft zu gehören. Die Tanne ist auch etwas, das sich niemals verändert - genauso wie der Trabant, der ein Auto war, das immer derselbe geblieben ist. 1974 hatte das aber eine ganz andere Interpretation. In diesem Jahr hatte man vermutlich gedacht, dass der Trabi nie altmodisch aussehen würde, genauso wie eine Tanne, die äußerlich nie alt wird.

Dieselbe Werbung gibt es auch farbig. Auf dieser kann man bemerken, dass der Kombi rechts weiß ist. Der P601 links ist hingegen hellblau. Das Weiß stellt das Licht und die Reinheit dar und wird oft mit der Hochzeit verbunden. Der Trabant kann als die Ehefrau, sein Fahrer als der Ehemann betrachtet werden. Man kann nämlich feststellen, dass es zwischen dem Auto und dem Fahrer immer eine enge Beziehung gegeben hat. Natürlich kann man sofort an Barthes Beschreibung des neuen Citroen in seinem Werk «Metamorphoses» (Quelle: Roland BARTHES: Mythologies, in Oeuvres complètes, Paris, Editions du Seuil, 1993, S. 655-656) denken. In dieser spricht er mit so viel Liebe von diesem Wagen, dass der Leser sich die Frage stellen kann, ob von einem Wagen oder einer Frau die Rede ist. Der Citroen, genauso wie der Trabant, wird personifiziert.

Das Hellblau, d.h. die Farbe des Trabant links, symbolisiert das Unerreichbare und das Wunderbare. Damit scheint der P601 etwas sehr Schönes zu sein, das man sich nur in Träumen leisten kann Das Auto wird hier vergöttert. Es ist - fast - so unerreichbar wie die Götter selbst.

Man sieht also, dass in der Werbung des Trabant nichts zufällig ist. Alles hat hier seinen Sinn. Da die Trabants gewissermaßen vergöttert wurden, kann man behaupten, dass sie zu Mythen geworden sind.